Profile der 1970er Jahre

Ein Themenportal des Seminars für Zeitgeschichte Tübingen

Jahrzehnt des historischen Widerspruchs

Jenseits von Schuld und Verdienst. Die "Generation 68" in den 1970er Jahren

Tobias Rupprecht

Das deutsche kollektive Gedächtnis erinnert sich der 50er und 60er Jahre in Schwarzweiß-Fotografien von Trümmerfrauen, von Ludwig Erhard mit Zigarre oder der ersten Italienfahrt im VW-Käfer. In dieses biedere Leben brachen die "68er" herein; die Bilder wurden bunt, die Haare lang, die Liebe frei - und wilde Musik allenthalben. Uneinigkeit herrscht heute über die Auswirkungen, und da tun sich selbst vorrangig Beteiligte lautstark hervor. Die eine Seite betont die "Fundamentalliberalisierung" (Habermas), die man den 68ern zu verdanken habe. Alte Aktivisten wie Wolfgang Kraushaar, Hans-Christian Ströbele oder Hans-Jürgen Wirth stimmen mit ein und singen das Hohe Lied auf ihre Errungenschaften. Den Kontrast liefern konservative Kritiker wie Hermann Lübbe oder Odo Marquard, die die "68er" in der Verantwortung für zahlreiche Probleme der Gegenwart sehen. Verstärkt durch die Joschka-Fischer-Debatte 2001 und die Kritik jüngerer Intellektueller wie Paul Nolte oder Franz Walter werden den "68ern" heute blinder Hedonismus, Konsumbezogenheit und Vernachlässigung der Kinder als Folge ihres Tuns in die Schuhe geschoben.

Eine Darstellung von "1968" muss in der Tat kritisch ausfallen, aber sie darf nicht blind verurteilen. Erstens wird immer davon ausgegangen, dass eine überschaubare Gruppe von Protestlern den weiteren Gang der Geschichte nachhaltig geprägt hätte. Neben den psychoanalytisch-gruppendynamischen Theorien von Horst-Eberhard Richter oder Philipp Reemtsma dominieren (stets wertende) Fragen nach den Auswirkungen und Folgen von "1968". Zweitens harrt hinter dem schwammigen, stark von Bildern geprägten Diskurs, eine zentrale Frage der Antwort: Wer waren eigentlich "die 68er"? Die Revolte soll an dieser Stelle von der anderen Seite her betrachtet werden, als eine von zahlreichen Reaktionen auf spezifische sozialkulturelle Bedingungen. Zwei Spannungsfelder lassen sich für die späten 60er und frühen 70er Jahre ausmachen: Erstens eine Ungleichzeitigkeit von sozioökonomischer Entwicklung und hinterherhinkenden Mentalitäten und zweitens ein Konflikt zwischen deutschen ideengeschichtlichen Traditionen und der Internationalisierung seit den frühen 60er Jahren.

Sozioökonomische Entwicklung und Mentalitäten

Die Generation, die Ende der 1960er Jahre ihre Adoleszenz durchlebte, stand in einem denkbar krassen Kontrast zur Generation ihrer Eltern. Diese hatten ihre Kindheit in der materiellen Not der Weimarer Republik verbracht, wurden im Nationalsozialismus politisch sozialisiert, erlebten den Krieg und die Entbehrungen danach. In den 50er Jahren strebten sie nach materieller Sicherheit und gesellschaftlichem Aufstieg. Ihr Erfahrungsraum ging in aller Regel nicht über den nationalen hinaus, im Mittelpunkt standen Arbeit und Aufbau. Die um 1945 Geborenen dagegen wuchsen in einem ständig steigenden Wohlstand auf, waren materiell abgesichert und hatten beste berufliche Zukunftsaussichten. Aus den objektiven Verhältnissen ist das Aufbegehren also nicht zu erklären. Der wirtschaftliche Boom der Nachkriegszeit hatte aber zu einem Zuwachs an Freizeit geführt, Arbeit begann ihre zentrale Bedeutung als Sinnstifter des Lebens zu verlieren. Der neue Erfahrungsraum musste gefüllt werden.

Ideell hing diese Generation erst einmal in der Luft. Die Bindekraft traditioneller Milieus und Sozialstrukturen nahm schon vor 1968 ab. Die Kirchen verloren an Einfluss, der Übergang des klassischen Arbeitermilieus in die "Arbeitnehmergesellschaft" schwächte die Gewerkschaften. Geschlechterrollen und Familienstrukturen begannen sich seit den frühen 60ern zu verändern. Diesem Orientierungsverlust, der in den postfaschistischen Ländern Deutschland, Italien und Japan durch die Diskreditierung der Elterngeneration noch stärker ausgeprägt war und entsprechend heftigere Folgen zeitigte, folgte in Verbindung mit einem zunehmendem Bewusstsein von internationalen Problemlagen vor allem in der Dritten Welt, der Suche nach einer geordneten Sicht auf die Welt und nach Möglichkeiten, sie zu verändern. Der Glaube an Planung und Machbarkeit stand im Kontrast zur Unkontrollierbarkeit des Kapitalismus und Heterogenität der sich langsam entfaltenden postmodernen Gesellschaft. Vor dem Hintergrund der großen ideellen Unsicherheit suchte ein Teil der in den Gut-Böse-Schemata von Christentum und Antikommunismus großgewordenen Generation Halt in umfassenden Welterklärungen. Marx und Lenin sowie die weniger verstaubt wirkenden Mao, Ho Tschi Minh und Che Guevara wurden zu Vorbildern erkoren. Ein "Kursbuch" kam auf den Markt um den Orientierungslosen den rechten Weg zu weisen und für Antworten auf sexuelle Unsicherheit grub man Freuds Psychoanalyse aus. Verbindet man die sozialhistorische Perspektive mit der Kultur- und Mentalitätsgeschichte, kann man für 1968 eine "Reibungshitze" erkennen (Malinowski/Sedlmeier 2006) zwischen den sich rasant verändernden Produktions- und Lebensweisen einerseits und der Beharrungskraft von Mentalitäten und Verhaltensmustern andererseits. Aus dieser Ungleichzeitigkeit und der daraus folgenden Unsicherheit in der jungen Generation entstand die Forderung nach einem umfassenden gesellschaftlichen Wandel.

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