Profile der 1970er Jahre

Ein Themenportal des Seminars für Zeitgeschichte Tübingen

Jahrzehnt des historischen Widerspruchs

Die Wirtschaft in den 70er Jahren in Deutschland als "erstes Zeichen eines globalen Klimawandels"?

Sarah Thamm

"Denn irgendwann, Anfang bis Mitte der 60er Jahre, trat ein, was der Erfinder der nationalen Treibhaus-Kulturen in seinen bangen Ahnungen vorausgesehen hatte: Mit der Zeit stießen die Pflanzen an Decken und Wände ihrer nationalen Treibhäuser und brachen immer mehr ins Freie aus und durch. Zwischen den nationalen Treibhäusern entstanden machtvolle Freilandkulturen. Dort wuchsen wunderliche Pflanzen und Bäume, die in den Herbarien der gelehrten Gärtner noch gar nicht verzeichnet waren: Multis, ihren Finanzierungsbedürfnissen ‚dienende' Euro-Dollar-Märkte, die sich im Handumdrehen zu Asien-, Pazifik- und Petro-Dollar-Märkten erweiterten. [...] Bis zum Jahre 1971 waren diese Feilandkulturen unter der dünnen Plastikhülle des 1944 in Bretton Woods - nach langen Kämpfen und Kontroversen um Keynes' kühne und weit reichende Idee einer Weltzentralbank - schließlich zustande gekommenen Weltwährungssystems einigermaßen klimageschützt gewachsen. Zwischen 1971 und 1973 riss die Plastikhülle. [...] Wie 1929 bis 1932 handelte man auch 1971 bis 1973 aus purer Hilflosigkeit. Die neue Situation stand nämlich nicht in den Lehrbüchern." (Hankel 197: S. 24/25)

Mit der "Treibhaus" Metapher beschreibt der Nationalökonom Wilhelm Hankel 1975 die Weltwirtschaftslage. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter Karl Schillers im Wirtschaftsministerium und danach als akademischer Lehrer tätig.

Ausgehend von dieser bildlichen Darstellung lassen sich die wirtschaftlichen Ereignisse der Epoche besonders greifbar darstellen: Er beschreibt die Wirtschaft nach der Theorie von Keynes, als nationales Treibhaus, dessen optimale Betriebstemperatur von Politikern über Hebel und Ventile gesteuert werden kann. In diesem Treibhaus wachsen volkswirtschaftliche "Pflanzen" wie Investitionen, Volkseinkommen, Verbrauch, Export, Import und Vollbeschäftigung, das optimale Wachstumsklima wird von geschulten "Gärtnern" über besagte Ventile gesteuert. Die Vollbeschäftigung war der Normalzustand der Wirtschaft moderner gesteuerter Industriestaaten mit marktwirtschaftlich gesteuerter Gesamtnachfrage. Die "Gärtner" mussten nur noch so viel Nachfrage in das Haus hineinlassen, dass das Wachstumspotential auf den Böden genutzt werden konnte. Die Steuerung der Wirtschaft musste nur darauf achten eine Überhitzung des Glashauses zu vermeide, denn dies hatte Überbeschäftigung und Inflation zur Folge. So weit die Situation vor Mitte der 1960er Jahre; durch die gezielte Beeinflussung der "Temperatur" ließ sich das Klima auf einem Niveau des konstanten Wachstums halten.

Dann kam es zu Entwicklungen, die dieses System der vielen einzelnen nationalen Treibhäuser ergänzten, denn wie schon eingangs dargestellt, wuchsen "Freilandkulturen", die nicht mehr mit den nationalen Reglungsmechanismen gesteuert werden konnten. So entwickelten sich dank neuerer Kommunikations- und Transporttechniken ganz neue Optionen für Unternehmen. Das Engagement auf dem Weltmarkt eröffnete neue Märkte und Perspektiven. Auch bisher weniger erfolgreiche Länder wie China oder Japan schafften den Sprung auf den Weltmarkt und traten mit ihren Produkten in Konkurrenz mit den "alten" Wirtschaftsnationen. So konnten sich im Nahen Osten Wirtschaftsmächte entwickeln, von deren Ölaufkommen die westlichen Industrienationen eine große Abhängigkeit aufwiesen.

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