Profile der 1970er Jahre

Ein Themenportal des Seminars für Zeitgeschichte Tübingen

"Generation 68" - Seite 2

Ideengeschichtliche Traditionen und Einflüsse

Der zweite Konflikt um 1968 liegt zwischen deutschen ideengeschichtlichen Traditionen und der durch die Blockbindung des Kalten Krieges in den späten 50er Jahren einsetzenden "Westernisierung" (Doering-Manteuffel 1999) und der Internationalisierung. Nach der Verortung einzelner 68er-Bewegungen und ihrer Nachfolger in diesem Spannungsfeld soll die eingangs gestellte Frage wieder aufgegriffen werden, wer denn "die "68er" eigentlich waren.

1. Die "Reibungshitze" machte sich als erstes in akademischen Kreisen bemerkbar. Den Beginn markiert der Ausschluss des SDS aus der SPD 1961, immerhin sechs Jahre vor dem gewaltsamen Tod von Benno Ohnesorg und den anschließenden Unruhen. Dabei bewegte sich aber gerade die studentische Bewegung, die oft als die eigentliche "68er"-Bewegung angesehen wird, in traditionellen deutschen Denkstrukturen. Die in den 60ern noch überwiegend aus dem Bürgertum stammenden Studenten waren beeinflusst von der Frankfurter Schule mit ihrem schroffen Distinktionsgebaren - man denke nur an Adornos Ausfälle gegen amerikanische Musik oder Marcuses Furcht vor der "Vermassung" in Der eindimensionale Mensch. Zusammen mit Horkheimer und dem jungen Habermas standen sie in der deutschen Tradition des Hegelianismus. Weltoffene und um Wertfreiheit bemühte Philosophie sah anders aus. Frankreich diente zu dieser Zeit als Vorbild. In Deutschland griff die intellektuelle Linke dagegen ganz unbefangen die Parlamentarismuskritik von Carl Schmitt auf, der hin und wieder sogar als der Haus- und Hofjurist der Frankfurter Schule bezeichnet wird (und für Altlinke wie Kirchheimer oder Neulinke wie Enzensberger oder Jürgen Seifert tatsächlich von maßgeblicher Bedeutung war). Nach Schmitt bedurfte wahre Demokratie der Homogenität, während der liberale Pluralismus von einem Werte- und Interessenpluralismus ausgehe. Der bürgerliche Rechtsstaat proklamiere die Idee der Demokratie und institutionalisiere sie, dennoch bleibe die liberale Demokratie eine Minoritätendemokratie mit sozialer Hierarchie. In der Weigerung soziale Heterogenität und Wertepluralismus zu akzeptieren stimmten Schmitt und die Frankfurter überein (Kennedy, 1986). Die rousseauistische Vorstellung eines Volkswillens und die Forderung nach direkter Demokratie hatten in Deutschland ebenfalls Tradition auf der linken wie der rechten Seite des politischen Spektrums. Der radikale Flügel der Neuen Linken trug diese Ideen, gegen den Willen der geistigen Väter, mit Mao- und Leninplakaten auf die Straße. Westlich geprägt waren in dieser frühen Phase nicht die Inhalte, aber zunehmend die Ausdrucksformen und der Habitus. Die transnationale Dimension der Proteste hatte ihre Wirkung auch auf Deutschland. Wer Fotografien von Demonstrationen Mitte der 60er mit solchen Ende der 60er vergleicht, sieht den Unterschied im Auftreten der Studenten: Aus scheinbar erwachsenen Demonstranten mit Krawatte und Kurzhaarschnitt wurden langhaarige Jugendliche in Jeans und T-Shirt, die "Sit-ins" veranstalteten - nur die Rhetorik blieb erst einmal dieselbe. Dass der Höhepunkt der Proteste 1968 schon überschritten war und sich der SDS 1969 bereits auflöste, läßt es sinnvoller erscheinen, von der Studentenbewegung der 60er Jahre zu sprechen als die "68er" mit "den Studenten" gleichzusetzen.

2. SDS und APO hatten die Spielregeln des demokratischen Staates und seiner Institutionen grundlegend in Frage gestellt. In der Forderung, dem Staat die liberale Maske durch (gewalttätige) Provokation vom Gesicht zu reißen, liegt die Wurzel der Gewalt (Reemtsma/ Kraushaar/ Wieland 2005). Studenten wie Terroristen übernahmen fragwürdige Traditionsbestände bürgerlichen Denkens in Deutschland: den Antiparlamentarismus à la Schmitt, den antistaatlichen Ästhetizismus und die Gewaltmystik eines Ernst Jünger und auch ein Überlegenheitsgefühl der eigenen Kultur gegenüber der sogenannten "westlichen Zivilisation". Verbunden mit der romantisch-abstrakten Erwartung eines harmonieerfüllten Reichs (à la Arthur Moeller van den Bruck) führte diese krude Mischung bei einer Minderheit zu einer Kultur der Gewalt (Kepplinger 1970). Die wiederum weckt Erinnerungen an Schmitts Theorie vom Partisan als dem letzten wirklich politischen Wesen der Gegenwart, das sich einer Unterwerfung unter die herrschenden politischen Strukturen verweigert (Schmitt 1963). Und hatten nicht auch SDS-ler und Spontis eine seltsame Begeisterung für Italo-Western mit ihren brutalen, amoralischen Anti-Helden entwickelt? Protagonisten des Terrors allerdings zeigten sich nur an den Rändern des studentischen Milieus. Kunzelmann für die Tupamaros West-Berlin, Michael "Bommi" Baumann für die Bewegung 2. Juni, Andreas Baader für die RAF, Hans-Joachim Klein für die Revolutionären Zellen waren keine Intellektuellen und grenzten sich durch Taten von theoretischen Diskussionen ab. Aktionismus und Dezisionismus waren die geistigen Grundlagen für den Terror, der letztlich nur mehr zum blutigen Selbstläufer aus Geldbeschaffung und Gefangenenfreipressung wurde. Alle Terrororganisationen hatten ihre internationalen Kontakte, die deutsche Wurzel machte sich aber noch im stählernen Kommandoton ihrer Manifeste bemerkbar.

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