Profile der 1970er Jahre

Ein Themenportal des Seminars für Zeitgeschichte Tübingen

"Generation 68" - Seite 4

Erstaunlich sind die Parallelen und personellen Kontinuitäten zwischen den Extremen, die beide dem "System" den Kampf ansagten. Die NPD bezeichnete sich zu dieser Zeit gerne auch als die "nationale APO" (Schildt 2004: S. 457). Aus dem rechten Lager, dem Umfeld deutschnationaler Burschenschaften in Marburg, wechselte Adornos Lieblingsschüler Hans-Jürgen Krahl in den SDS. Gleiches gilt für den Mussolini-begeisterten Wehrmachtsfreiwilligen Johannes Agnoli, der sich zum APO-Wortführer wandelte. Bernward Vesper und Gudrun Ensslin gaben in ihren Tübinger Tagen die Werke von dessen Vater, des Nazi-Dichters Will Vesper, heraus und annoncierten dafür in NPD-Zeitungen. In den frühen 60ern hatte B. Vesper unter Pseudonym in rechten Blättern geschrieben und mit dem späteren DVU-Gründer Gerhard Frey gestritten, wie eine moderne Rechte aussehen sollte. In den 80er und 90 Jahren schwenkten dann umgekehrt einige Repräsentanten der Neuen Linken nach rechts außen. Klaus Reiner Röhl, Ex-Herausgeber des APO-Sprachrohrs konkret, agiert heute in nationalliberal-revanchistischen, die Ex-SDS-Mitglieder Günter Maschke und Reinhold Oberlercher in rechtsextremen Kreisen. Allgemein bekannt ist die Mitgliedschaft des früheren RAF-Anwalts Horst Mahler in der NPD. Bernd Rabehl, eines der bekanntesten Mitglieder des SDS-Vorstands, vertritt heute die These, dass es 1968 um die Befreiung Deutschland von Besatzung und kultureller Überfremdung ging. Heute steht er im Gefolge von NPD-Vertretern in der Öffentlichkeit und redet vor rechtsradikalen Burschenschaften. Grotesk erscheint auch die Finanzierung des Linksterrorismus durch den Schweizer Altnazi François Genoud in den 70er und 80er Jahren (Schröm 2002). Antisemitismus, Antizionismus, Antiamerikanismus und Antiliberalismus, antiwestliche und antikapitalistische Ansätze waren und sind typische Elemente des deutschen Rechtsradikalismus. In unterschiedlicher Gewichtung sind sie auch auf der Linken zu finden und ermöglichten einzelnen Personen, von einem Extrem ins andere zu wechseln. Auch in der "68er"-Bewegung sind diese Ansätze zu finden. Sie aber pauschal als reaktionär oder nationalistisch zu bezeichnen, geht an der Sache vorbei, da es Phänomene in einer höchst heterogenen Bewegung waren.

Für eine breite Definition der "68er"

Wie gezeigt, kann keine der Gruppen allein für "1968" stehen. Auch die Studentenrevolte, auf die man die "68er" oft reduziert, repräsentiert keineswegs die gesamte heterogene Bewegung. Für eine klare Terminologie wäre es sinnvoll, das Jahr "1968" als Chiffre für Protest und entladene Spannungen zusehen, die "68er" aber als die darauf folgende Generation. Diese zeigte - verursacht durch die "Reibungshitze" zwischen sozialökonomischer und mentalitärer Entwicklung - eine Vielzahl von Reaktionen auf gesellschaftliche Entwicklungen und stand im Spannungsfeld zwischen deutscher ideengeschichtlicher Tradition und neuem Denken durch Internationalisierung und Westernisierung. Am Entstehen demokratischer Strukturen in Deutschland war die Zwischengeneration der so genannten "45er" viel stärker beteiligt (Wolfrum 2006, S. 268). Erst sie bereitete den Boden für "1968". Die "68er" waren Kinder aus städtisch-bürgerlichen Milieus, die im zunehmenden Wohlstand der Nachkriegszeit aufwuchsen und sich Ende der 60er Jahre, in der Phase ihrer politischen Sozialisation, mit gesellschaftlichen Widersprüchen auseinanderzusetzen hatten.

Für die 70er Jahre allerdings war die breite Masse sozialer Aufsteiger (die in diesem Verständnis auch "68er" sind!) in die Mittelschicht viel entscheidender als kleine Gruppen von ideologisierten Studenten und medial überrepräsentierten Kommunarden. Nur in der Wahrnehmung konservativer Milieus waren letztere eine Bedrohung für die Grundfesten der Bundesrepublik (Schildt 2004). Im Gegensatz zu ihren Eltern war diese Generation vergleichsweise gebildet, übernahm bürgerliche Werte und war zugleich von der Westernisierung geprägt. Die ihnen zur Verfügung stehende Freizeit und die gesicherte Lebensgrundlage ließ Raum sowohl für Hedonismus als auch für postmaterialistische Fragen.

Die große Mehrheit, die Ende der 60er und in den 70er Jahren ihre Adoleszenz verlebte, eignete sich zwar gewisse Ausdrucksformen der Protestierenden an, wollte aber keineswegs die Bundesrepublik aus den Angeln heben und empfand keine "klammheimliche Freude" beim Terror gegen ihre Repräsentanten. Die "Generation 68" übernahm emanzipative und habituelle Elemente der Protestierenden von "1968", nicht aber deren ideologischen Dogmatismus. Dass die in den 70er Jahren ins Berufsleben eintretenden Angehörigen dieser Generation nachhaltig Strukturen in Wirtschaft und staatlichen Institutionen prägten, soll nicht bestritten werden. Betrachtet man die "68er" jedoch nicht als überschaubare Gruppe von Rebellen, sondern als eine ganze Generation, dann kann man auch über die gesellschaftlichen Folgen wie Fundamentalliberalisierung oder Hedonismus sprechen. Moralische Fragen nach Schuld oder Verdienst Einzelner sind aber nicht die Aufgabe von Historikern.

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