Profile der 1970er Jahre

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Bildungspolitik - Seite 3 und Literatur

Demokratisierung der Bildung?

Kurt Sontheimer diagnostizierte eine "Tendenzwende" im kulturellen Bereich, die sich in den 1970er Jahren vollzogen habe. Ihre Kennzeichen seien ein zunehmender Rückzug ins Subjektive und Private, und die damit einhergehende zunehmende Entpolitisierung und Re-Individualisierung. Betrachtet man jedoch den Bildungsbereich, so kann gerade bei den Vertretern der Geisteswissenschaften ein Beibehalten kultur- und wertkonservativen Positionen beobachtet werden. Diese konservative Denkweise manifestierte sich unter anderem in der Gründung des "Bund Freiheit der Wissenschaft" (BFW), ins Leben gerufen 1970 von prominenten deutschen Geistes- und Sozialwissenschaftlern, unter ihnen der Philosoph Hermann Lübbe, der Politikwissenschaftler Richard Löwenthal und der Historiker Ernst Nolte. Diese Institution entstand als bewusste Gegenbewegung gegen die Partizipationsforderungen der Studentenbewegung und trat für eine "Sicherung der staatlich kontrollierten Selbstbestimmung" der Universität ein (Gründungsaufruf BFW, 1970). Hier zeigt sich die Mehrdeutigkeit des Demokratisierungsbegriffes am deutlichsten, sah doch der BFW in dessen Umsetzung in der zeitgenössischen Bildungspolitik die Tendenz einer vermeintlichen Instrumentalisierung der Wissenschaft zu politischen Zwecken, während er jedoch gleichzeitig eine Demokratisierung im Sinne einer Ermöglichung von Chancengleichheit guthieß. So kann man - grob vereinfacht - zwei Demokratieverständnisse unterscheiden: Einerseits galt eine Bildungsreform insofern als demokratisch, wenn die "Durchlaufquote" systematisch erhöht wurde, wie es der Bund Freiheit der Wissenschaft forderte, und andererseits verstand man darüber hinaus darunter auch die dem humanistischen Bildungsideal verpflichtete Vorstellung einer Erziehung zum "mündigen Bürger", wofür insbesondere Ludwig von Friedeburg eintrat.

Dass einige Forderungen des BFW, so vor allem der nach staatlich kontrollierter Selbstbestimmung der Universitäten, im 1976 erlassenen Hochschulrahmengesetz realisiert wurden, war wohl weniger ein alleiniger Verdienst des BFW. Vielmehr lag dies in veränderten politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, wie ökonomischen Krisenerscheinungen und strukturellen Problemen bei der Realisierung der Reformvorhaben, begründet. Nach einem Intermezzo des Bundes in der deutschen Bildungspolitik während der 1960er und 1970er Jahre zogen zudem die Bundesländer die Entscheidungskompetenzen wieder an sich. Statt der 1970 eingesetzten Bund-Länder-Kommission wurde die Kultusministerkonferenz wieder zum entscheidenden bildungspolitischen Akteur. Der Deutsche Bildungsrat wurde 1975 aufgelöst. Der Erlass des Hochschulrahmengesetzes im Jahre 1976 erstand schließlich nicht mehr im Geiste der anfänglichen Reformeuphorie.

Was aber blieb von der Idee Brandts, mehr Demokratie zu wagen? Die Mitte der 1970er Jahre markieren das Ende der Reformeuphorie im Bildungsbereich. Nicht mehr das Wagnis großer Reformprojekte stand fortan im Mittelpunkt, sondern "Kontinuität und Konzentration", wie es Helmut Schmidt in seiner Regierungserklärung 1974 programmatisch einforderte. Das Erreichte sollte beibehalten und verfestigt werden, doch nun mit der pragmatischen Einsicht in die Grenzen des Machbaren und in die Notwendigkeit, die "Kräfte auf das heute Wesentliche, auf das heute Mögliche [zu] konzentrieren.".

Literatur

  • Anweiler, Oskar, Bildungspolitik / Bildungswesen, in: Handwörterbuch des politischen Systems der Bundsrepublik. (Bundeszentrale für Politische Bildung)
  • http://www.bpb.de/wissen/08248942695602626125480483349578,0,0,BildungspolitikBildungswesen.html
  • Becker, Helmuth/ Dahrendorf, R./Glotz, P., Die Bildungsreform, Stuttgart 1976
  • Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Band VI. 1945 bis zur Gegenwart. Erster Teilband Bundesrepublik Deutschland. Hrsg. Von Christoph Führ und Carl-Ludwig Furck, München 1998.
  • Kroll, Frank Lothar, Kultur, Bildung und Wissenschaft im 20. Jahrhundert, München 2003. (Enzykloplädie Deutscher Geschichte Band 65)
  • Wolfrum, Edgar, "1968" in der gegenwärtigen deutschen Geschichtspolitik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (B 22-23/2001) http://www.bpb.de/publikationen/27NG0I.html
  • Rödder, Andreas, Die Bundesrepublik Deutschland 1969-1990, Oldenbourg 2004.

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