Profile der 1970er Jahre

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Unregierbarkeitsdebatte - Seite 2

Die Unregierbarkeitsdebatte

Zunächst soll Peter Graf Kielmansegg, Jahrgang 1937, zu Wort kommen, der zusammen mit Wilhelm Hennis und Ulrich Matz 1977 bzw. 1979 eine Studie in zwei Bänden herausgegeben hat, die sich mit der Problematik der Regierbarkeit beschäftigt. Diese Studie versammelte Politologen, Soziologen, Historiker und Wirtschaftswissenschaftler, um dem Problem der mangelnden Handlungsfähigkeit der westlichen Demokratien auf den Grund zu gehen. Kielmansegg beschäftigte sich in dem Aufsatz Demokratieprinzip und Regierbarkeit mit dem Problem der Demokratie. Entgegen den Aussagen einiger Demokratiekritiker definierte er "unregierbar" als bloßen Zustand, indem "bestimmte Institutionen unter bestimmten Rahmenbedingungen an einer bestimmten Problemlage zu scheitern drohen" (Kielmansegg 1977: S.118). Damit wies er die These einer Anarchie oder einer "Herrschaft der Verbände" zurück. Kielmansegg sprach von einer Schwächung der Demokratie anstelle eines Scheiterns, welches nur dann festzustellen sei, wenn demokratische Institutionen den "Bestand und [die] Entwicklung der Gesellschaft" (Kielmansegg 1977: S.119) nicht mehr gewährleisten könnten. In einer extensiven Auslegung werde aber das Prinzip der Demokratie für "alle Einrichtungen und Ordnungen menschlichen Zusammenlebens und -wirkens für verbindlich erklärt, zur Universalnorm erhoben" - ein zu hoher Maßstab, an dem die Demokratie durch ihren eigene Vorgaben zerbrechen könne (Ebd., S.122). Diese Argumentationsstruktur sei ein "handfest-aktuelles Thema" in der konkreten politischen Situation der späten 1970er Jahre. Um dem Paradox auf die Spur zu kommen, untersucht Kielmansegg die "Abhängigkeit der Politik von der Zustimmung ‚des Volkes'" und fragt, wie sich diese auf die Handlungsfähigkeit der Demokratie auswirkt. Das Staatsverständnis der Bürger wandle sich und eine für konservative Geister paradoxe Situation entstünde, in der die Bürger dem Staat immer mehr Verantwortung zuwiesen, während gleichzeitig "traditionelle Zustimmungsmotivationen" sich auflösten (Ebd., S.123). Diese sich auflösenden Motivationen fänden ihren Widerschein in einem letzten Aufflackern des hegelianischen Staatsverständnisses, was dann näher ausgeführt wird: Keine Treue mehr zu einer "Dynastie", veränderte Bedeutung der Begriffe "Vaterland" und "Nation", keine Anerkennung der "institutionellen Autorität" - kurz: "Die traditionellen Tugendkodices [...] zerfallen" (Ebd., S.125).

Aus dieser, für Kursbuch-Leser jener Jahre reaktionären, Beobachtung und Beurteilung erschließt sich Kielmansegg eine Problematik, die gerade die Demokratie als westliche Staatsform betrifft. Dadurch, dass dem Staat mehr Bedeutung beigemessen und ihm mehr Verantwortung zugeschrieben werde, müsse sich die jeweilige Regierung ihre Wählerschaft durch Befriedigung solcher Bedürfnisse erhalten. Dies geht einher mit einem gleichzeitigen Verlust der staatsbürgerlichen Loyalität. Jenes schiefe Verhältnis von Bürger und Staat werde durch einen Wettbewerb zwischen Opposition und Regierung um Wählerstimmen noch verschlechtert. Der Politiker brauche also die Zustimmung seiner Partei, der organisierten Interessen und eben der Wählerschaft. Daraus leitet Kielmansegg zwei Thesen ab: Erstens werde der Handlungsspielraum einer Regierung, die den Weg des geringsten Widerstandes geht, sehr eng sein. Und zweitens werde dieser Spielraum durch den Konkurrenzkampf weiter begrenzt. Wiederum formuliert Kielmansegg einige "Vermutungen": Einkommens- und Konsuminteressen hätten Vorrang (1). Probleme würden nur im unmittelbaren Zeitkontext gesehen (2). Nationale Interessen hätten meist den Vorrang vor internationalen (3). Die öffentliche politische Diskussion werde auf einem "sehr niedrigen Niveau der Rationalität" geführt (4). Die Staatsausgaben wüchsen an (5) (Ebd., S.128f).

Daraus lasse sich die Schlussfolgerung ziehen, dass die Leistungsfähigkeit des politischen Systems schwächer zu werden drohe. Diese eher konservative Demokratiekritik wird nun aber relativiert: Die Politiker "müßten sich nicht so verhalten, wie sie sich, wenn die Annahmen unserer Analyse richtig sind, häufig verhalten" (Ebd., S.133). Mit seinen letzten Sätzen rief Kielmansegg schließlich dazu auf, die Diskrepanzen im demokratischen System wahrzunehmen und sich zu ihnen verhalten. Prägnant fasste er das zusammen: Der Staat und das demokratische Prinzip sind mit den ihr aufgetragenen Aufgaben überfordert.

Die weiteren Autoren setzten andere Schwerpunkte. Ulrich Matz konzentrierte sich in seinem Beitrag auf das Problem der modernen Staatszielvorstellungen, Friedrich H. Tenbruck beschäftigte sich mit den "Grenzen der staatlichen Planung", andere Arbeiten maßen der Macht der Verbände mehr Bedeutung zu (v. Alemann und Heinze 1979). Dennoch kristallisiert sich heraus, dass nahezu alle Überlegungen denselben Schnittpunkt aufweisen: Der Staat ist mit den Aufgaben, die an ihn gestellt werden, überfordert. Aus diesem Umstand läßt sich bei den Protagonisten der Unregierbarkeitsdebatte erschließen, dass sie den Staat immer noch als machtvolle Struktur ansehen, die sich nicht ohne erhebliche Kosten für das Gemeinwesen Fehler oder Niederlagen erlauben könne. Dass diese traditionelle Sichtweise in den 1970er Jahren enttäuscht wird, gehört zur Signifikanz des ganzen Jahrzehnts.

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