Profile der 1970er Jahre

Ein Themenportal des Seminars für Zeitgeschichte Tübingen

Jahrzehnt des historischen Widerspruchs

Die Unregierbarkeitsdebatte als Ausdruck des sozialen Wandels

Alexander Krauch

Nach einer Zeit der Prosperität und einem übermäßigen Vertrauen in den wirtschaftlichen Aufschwung hielt mit Beginn der 1970er Jahre Ernüchterung in der Bundesrepublik Einzug. Einen ersten symbolischen Höhepunkt bildete die Ölpreiskrise seit 1973. Sie führte zum Aufkommen einer Debatte über die Handlungsfähigkeit des Staates im Allgemeinen. Dies mag als Ausdruck von Resignation gelten, die Diskussion über "Unregierbarkeit" hat jedoch eine lange Vorgeschichte und ist mit recht verschiedenen Themen und Diskursen verknüpft. Betrachten wir zunächst die Vorgeschichte und einige Aspekte der Debatte, bevor die Argumentation des Politologen Peter Graf Kielmansegg, einer der Hauptvertreter der Diskussion, dargestellt wird.

Vorgeschichte

Die sozialliberale Koalition unter Willy Brandt, die 1969 die Große Koalition ablöste, hatte Schlagworte geprägt wie die Formel "Mehr Demokratie wagen" und stand für Modernität und rationale Planung. Dieser Punkt ist hier von Bedeutung, denn als die großen Planungsambitionen später scheiterten, wurden viele jener Symptome in der staatlichen Praxis sichtbar, die dann als "Unregierbarkeit" begriffen worden sind. Mit dem neuen Kanzler zogen auch neue Ideen ins Kanzleramt ein. Leiter des Planungsstabes wurde der Sozialwissenschaftler Reimut Jochimsen, Bundesminister für besondere Aufgaben wurde Horst Ehmke, der zuvor Staatsrechtsprofessor gewesen war. Beide hatten als Kollegen an der Universität Freiburg gearbeitet und entstammten der ordoliberalen Freiburger Denkschule. Es war symptomatisch für den steigenden Einfluss wissenschaftlicher Beratergremien, dass hier Wissenschaftler ins Kanzleramt geholt wurden. Auch der Politologe Fritz W. Scharpf gehörte zu diesem neuen Typus des Politikberaters. Durch personelle Modernisierung, Einführung neuer Arbeitstechniken und den Einsatz technischer Hilfsmittel sollte das Kanzleramt die Planung moderner Politik koordinieren.

Die Gründe für das Scheitern des ambitionierten Programms unter Willy Brandt waren vielfältig. Die Deutschland- und Ostpolitik erzeugte eine Art von innenpolitischer Unbeweglichkeit. Auf wirtschaftlicher Ebene hatte die Ölpreiskrise 1973 eine womöglich größere psychologische als ökonomische Wirkung. Wolfgang Reinhard schreibt in seiner Geschichte der Staatsgewalt gleichwohl von einer "chronischen Finanzklemme", deren Ursachen allerdings in der "staatlichen Misswirtschaft infolge der Parteien- und Interessengruppendemokratie", im Ressourcenverlust durch Globalisierung und dem Aufkommen von Schattenwirtschaft gelegen hätten (Reinhard 1999: S. 518). Man kann mithin schon vor der Ölkrise eine wirtschaftliche Stagnation beobachten. Hinzu kam, dass die Administration nur teilweise mit dem vorgegebenen Tempo der "Planung" Schritt halten konnte. Bei großen Planungsvorhaben erwies es sich, zum Beispiel, als extrem schwierig, mehrere Institutionen, Ministerien und die langfristige Finanzierung zu verknüpfen. Mit Karl Schiller als Wirtschaftsminister der Großen Koalition hielt der Keynesianismus auch in der Bundesrepublik Einzug. Den begrenzten Erfolg dieser Form fiskalpolitischer Globalsteuerung könnte man quasi als Vorboten des Scheiterns der Planungsidee deuten. Seit dem Staat das lenkende Moment abhanden kam, stellte sich die Frage nach den zukünftigen Gestaltungsmöglichkeiten: "War politische Planung als Mittel konzipiert, soziale, ökonomische und politische Krisen zu lösen, so brachte sie am Ende neue, ja neuartige Krisen hervor, welche politisches Denken und Handeln seither prägten." (Metzler 2005: S. 418).

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